Tough Love: 5 Gründe, warum wir Retro lieben

Roland JX8P Synthesizer in, sagen wir, leicht angefasstem Zustand

Neulich habe ich mir einen 30 Jahre alten Synthesizer gekauft. Eine Maschine, die auch ohne die Kratzer nicht besonders hübsch wäre und längst von Software für ein paar Euro rechts überholt wird. Eigentlich wollte ich sie nicht einmal, und Platz und Zeit habe ich auch nicht dafür. Aber was willst du tun, wenn es Liebe ist. Liebe? Moment mal…

Crosspost zum Super-Retro-WMFRA #67 am 8.12. – weiter lesen auf wmfra.de.

Es ist ja nicht so, dass ich mit moderner Technik ein Problem habe. Wenn mir jemand erzählen will, früher war alles besser, antworte ich gehässig: „Klar. Und noch früher war alles noch besser.“ Nein, die alte Technik ist weit, weit weg. Seit den 8-Bit-Zeiten haben wir laut Mooreschem Gesetz etwa 15 neue Generationen erlebt, also eine Verzweiunddreißigtausendfachung der Rechenleistung. Und die alten Maschinen? Die sehen komisch aus, werden langsam unzuverlässig und riechen schlecht. Und trotzdem lassen sie uns nicht los.

Okay, ich kann das erklären. Zuerst einmal mit Magie.

Retro ist magisch.

Eine Senso-LED-Lampe: Selbstbauprojekt. (Mehr hinterm Link.)
Selbstbauprojekt Senso-Lampe: Moderne LED, ein Schaltnetzteil, ein TTL-Chip, eine Handvoll Transistoren – fertig. Man kann sogar noch das alte Spiel spielen. (Mehr durch Klick aufs Bild.)

Senso/SIMON game from the 70s/80s as a four-color LED lamp

Das Ding hier ist ein magisches Objekt aus meiner Kindheit: Senso, eins der ersten massenhaft produzierten digitalen Spielzeuge. Schön bunt, brummte unirdisch-freundlich, und spielte auf Befehl ein elektronisches „Ich-packe-meinen-Koffer“ mit mir. So etwas hatte ich auf diesem Planeten noch nicht gesehen und gehört! Dieses Plastik-Ufo erstmals selbst in den Händen halten – ein magischer Moment.

wenig von dieser Magie kann ich heute noch spüren, wenn ich den Senso in die Hand nehme. Es ist die Magie unvergessener erster Begegnungen, bis dahin ungekannter Möglichkeiten. Und die Erinnerung einer Zeit, als alles viel wuchtiger und unmittelbarer wirkte als heute. Ich genieße diese Erinnerung. Proust hatte seine Madeleines, ich habe Retro-Projekte: eins meiner ersten war, dass ich einen alten Senso ersteigert und in eine LED-Lampe umgebaut habe. Mit der man natürlich immer noch spielen kann.

Und ehrlich gesagt finde ich, dass sie auch einfach ganz gut aussieht.

Retro ist schön.

Die Technik von früher hatte eine ganz eigene Ästhetik. Sie durfte noch Technik sein, ohne sich dafür zu schämen und sich in glatt polierten weißen Quadern mit Silberäpfeln vor uns verbergen zu müssen. Ihre Macher scheinen sich gedacht zu haben: Das kaufen ohnehin nur Freaks, also können wir unsere Designer ruhig mal was probieren lassen. Sie flog, ästhetisch gesehen, unter dem Radar. Und sie hat so durchaus Neuland erreicht.

Natürlich ist beispielsweise der Look der ersten Videospiele den Grenzen der damaligen Technik geschuldet. Aber Pixel-Landschaften und in 16×16-Sprites skizzierte Charaktere haben ihre ganz eigenen Charme. In der Form und in der Funktion.

Retro ist einfach.

Die alten Spielhallenvideogames sahen nicht nur spannend aus, sie klangen nicht nur toll – sie waren ungemein zugänglich. Wenn du nicht wusstest, wie man ein Spiel wie Dig Dug spielt: fünf Minuten zuschauen, und du kanntest die Regeln. Versuch mal einen modernen Gamer-Blockbuster ohne Tutorial-Level und Handbuch zu kapieren. Was ist einer der heißesten Gamer-Trends der letzten Jahre? Casual Games – also genau das: Zurück zu Retro. Aus Gründen.

Retro macht mächtig.

Weil die Technik von damals einfacher zu verstehen ist, ist sie auch einfacher zu beherrschen. Die Geheimnisse von damals sind weitgehend erschlossen; du findest heute zu jeder alten Maschine genug Details und Tipps im Netz, um sich ihrer bemächtigen zu können.

Macht über eine Maschine zu haben, das wissen wir aber, ist ein unglaublich tolles Gefühl.

Dazu kommt, dass wir an den Maschinen von damals viel für heute lernen und üben können. Wer mit den drei 8-Bit-Registern eines 6502 im C64 klar kommt, den werden die Beschränkungen eines RISC- oder Signalprozessors nicht aus der Ruhe bringen. Und umgekehrt: wer lernen will, wie man eine Maschine digital steuert, fängt vielleicht besser mit dem einfachen Arduino an anstatt mit einer modernen Prozesssteuerung.

Wenn man dann aber mit der alten, begrenzten Technik arbeitet, stößt man wiederum sehr schnell an Grenzen – und man wird lernen, sie zu überwinden.

Retro heißt: aus wenig viel machen.

Heutige Technik gibt uns unerhörte Mittel in die Hand. Selbst unsere mobilen Geräte geben uns, gemessen an den Ansprüchen der 8-Bit-Ära, praktisch unbegrenzte Speicherkapazität und Rechenleistung, um Probleme zu lösen. Das ist keine Kunst. Kunst ist, aus der Beschränkung Stärke gewinnen. Das ist der Kern der Kreativität: Aus wenig viel machen. Sich aufs Wesentliche zu konzentrieren – und innerhalb enger Grenzen wahre Freiheit entwickeln.

Allein dafür muss man Retro lieben.

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